Spanisches Kaleidoskop
Tagesnotizen Urbi et Orbi – ex Hispaniam
21.5.2019
Dass die Passagiere auf Außenpositionen gebracht werden, also nicht direkt am Gate ins Flugzeug steigen können, ist – zumindest im überfüllten Frankfurter Flughafen – nicht ungewöhnlich. Dass sie aber, einmal ins Flugzeug gelangt, auf die „zweite Schicht“ länger warten müssen, weil „Fraport“ allem Anschein nach über zu wenig Busse verfügt, gehört dann doch eher in den Bereich des Außergewöhnlichen, gerade für einen Flughafen, der sich so gern an der Weltspitze wähnt.
Aus dem Reich absoluter Kuriositäten entstammt es jedoch, dass die Maschine auch dann noch nicht abheben kann, nachdem bereits die sonore Ankündigung „Boarding completed“ an die Crew aus dem Lautsprecher zu vernehmen war und die Türen geschlossen wurden und der Kapitän als Grund dafür mitteilen muss, der Zielflughafen sei geschlossen – und zwar wegen Übungen für eine Flugshow. Man traut seiner Wahrnehmung nicht – irgendwelche nicht groß gewordenen Jungs südländischer Herkunft – es geht gen Sevilla – dürfen die zivile Luftfahrt zum Erliegen bringen, weil sie so gern ohne Achterbahn Loopings drehen wollen! Ähnliches habe ich zuletzt vor Jahren nur mal in Indien erlebt und als den dortigen Gegebenheiten – und nur den dortigen – noch entsprechend angesehen; damals standen wir eineinhalb Stunden auf dem Rollfeld; doch jetzt das, im ach so fortschrittlichen, zivilisierten Europa! Erst nach mehr als einer Dreiviertelstunde zusätzlicher Wartezeit heben wir endlich ab. Muss ich noch erwähnen, dass der Flieger eine halbe Stunde über dem Ziel kreisen muss, weil die Landebahn immer noch für den Firlefanz genutzt wurde? Der Kapitän hatte dafür vorsorglich schon in Frankfurt zugetankt, zum Glück. Aber dafür fliegt man ja mit der Lufthansa. Und das alles nur, weil Kinder spielen wollen, auch wenn sie längst erwachsen sind!
22.5.2019
Im Zielflughafen endlich angekommen, wird mit aller Drastik verdeutlicht, dass man dem säkularen Mitteleuropa Adieu gesagt hat. Man hört sie schon in der Halle für die Gepäckausgabe, die holden Gesänge aus Frauenkehlen zur ebenso hold gezupften Gitarre. Es ist ja nur eine, durch eine halbhoch gezogene Ladenzeile mit allesamt geschlossenen Läden geteilte riesige Betonhalle, die die Fluggäste nicht allzu gastlich erwartet. Während auf der einen Seite die lange Zeit leer bleibenden Gepäck-Förderbänder ihre Runden drehen und von den Wartenden sehnsüchtig beäugt werden, ob nicht doch endlich ein Koffer befördert wird, tönen von der anderen Lieder eindeutig klerikalen Inhalts, und zwar so pausenlos, dass man denken könnte, sie kämen vom Band. Ich verstehe sie selbstverständlich nicht; aber die christliche Herkunft ist ohne Zweifel.
Und tatsächlich: Kaum passiere ich den Durchgang in den anderen Teil der Halle, sehe ich sie – einige jüngere Frauen mit madonnenhaftem Haar, natürlich in Nonnenkostüme gehüllt, huldvoll-fröhlich den Blick auf die Ankommenden gerichtet und ohn’ Unterlass der Jungfrau Maria oder anderen Heiligen huldigend. Das soll wohl eine zielgerichtete Begrüßung sein, die allerdings definitiv nicht mir gilt. Mir ging das Gesäusel inzwischen gehörig auf die Nerven, war ich ihm doch schon fast eine Stunde ausgesetzt gewesen. Andererseits: Habe ich jemals einen solch warmen Empfang an einem Flughafen erlebt? Es ist allerdings klar: Ich bin in Spanien. Wie schön, dass der Schalter der Autovermietung ganz am anderen Ende der Halle liegt und man dort den Gesang nur noch ahnen kann… und ganz unspanisch flugs kann ich mein Auto in Empfang nehmen und endlich geht es wirklich los mit dem spanischen Vergnügen!
23.5.2019
Der Zorn Gottes ob meiner lästerlichen Gedanken ereilt mich – das war in Spanien nicht anders zu erwarten – nur kurze Zeit später. Wer die heilige Kirche und ihre Auswüchse nicht ehrt, wird eben eines Besseren belehrt! Nicht das Schicksal, sondern mein Wille wollte es, dass ich, einer melancholischen Erinnerung an meine erste Fahrt von Sevilla an die Küste vor mehr als zwanzig Jahren folgend, die Autobahn zunächst mied und auf die auch seinerzeit schon autobahnähnlich ausgebaute Nationalstraße fuhr. Die ersten zweihundert Meter gingen reibungslos; doch dann begann ein Kreiselwirrwarr, das selbst erfahrene Franzosen in Angst und Schrecken versetzt hätte. Beim vierten oder fünften Kreisel nehme ich in Ermangelung von Hinweisschildern die mich aus irgendeinem nicht nachvollziehbaren Grund anlockende Abzweigung, nur um kurz darauf feststellen zu müssen, dass ich nicht mehr auf einer Nationalstraße sein kann. Ich bin hoffnungslos verloren und stecke fest in den immer enger werdenden Straßen von Dos Hermanas.
Dos Hermanas! Sicher einer der Sehnsuchtsorte in Spanien, diese Ansammlung gesichtsloser Hochhäuser Marke Plattenbau im Süden des auch nur in der Innenstadt wundervollen Sevilla; aber da wollte ich gar nicht hin, sondern daran vorbeifahren. Jetzt bin ich stattdessen mittendrin. Das Schlimmste an diesem Vorort ist der augenscheinliche Verzicht auf jegliche Hilfsmittel zur sinnvollen Lenkung des Straßenverkehrs, zumal der ortsunkundigen Autofahrer, wie etwa mich. So ging mein inneres Lästern also in den säkularen Bereich über, bis ich feststellen muss, dass es sehr wohl Schilder gibt, immer vor den Kreiseln, allerdings in einer Größe, die selbst an deutschen Radwegen noch klein zu nennen wäre. Immerhin keimte in mir die Entdeckerfreude und nach und nach komme ich heraus aus dem Labyrinth und bin glücklich, dass die wiedergefundene Nationalstraße endlich in die Autopista gen Südwesten mündet. Einfach so. Ohne Kreisel. – Als altmodischer Mensch habe ich auf die Ausstattung des gemieteten Fahrzeugs mit einem Navigationsgerät natürlich verzichtet, zumal ich in Deutschland eine wunderbare Straßenkarte in ausreichendem Maßstab erstanden hatte. So bin ich eben schon immer Auto gefahren. Aber sowas bewahrt offenkundig nicht davor, irgendwo zu stranden…
24.5.2019
Müßig zu spekulieren, ob das Unheil abgewendet worden wäre, hätte ich den heiligen Sängerinnen nicht solch heidnische Gedanken entgegengebracht und mich stattdessen an dem gesungenen Empfang erfreut – wann wurde ich denn jemals auf einem Flughafen solchermaßen begrüßt? Kindness and gratitude, das wäre auch eine Möglichkeit der Wahrnehmung gewesen… vermutlich hatten die großen Jungs mit ihren unnötigen Flugspielen meine Sensibilität in eine Richtung gesteuert, die derartigen Empfindungen keinen Raum mehr gab. Oder vielleicht doch, wären es eben nicht Gottesanbeterinnen, sondern einfach spanische Sängerinnen gewesen. Aber es waren doch Spanierinnen!
Dies alles geht mir durch den Kopf und noch mehr, weil es nicht nötig ist, auf den Verkehr zu achten, den es nämlich auf dieser Autobahn nicht gibt, sodass das Gehirn sich eben etwas anderes sucht, um nicht beschäftigungslos durch die Gegend gefahren zu werden. Das wäre ja noch schöner! In Spanien ankommen und faulenzen! Ja, so sind die grauen Zellen im menschlichen Hirn eben gestrickt; pausenlos muss gedacht werden. Man kann dem Denken allerdings, wenn man das durchschaut hat, eine andere Richtung geben. Das tue ich nun und – genieße einfach die herrlich weite Landschaft, von der Sonne bestrahlt, blühende Mohnblumen und ja, auch schon vereinzelt Sonnenblumen auf den Feldern neben der Straße, die Freude über die Küste und den Ozean. Und ich erinnere mich an meine erste Fahrt hier, winke dem auf dem Hügel schon von fern grüßenden Stier aus Blech innerlich zu – ein alter Bekannter, stand er doch schon vor einundzwanzig Jahren an dieser Stelle – und ertappe mich dabei, schon wieder zu denken…
25.5.2019
Der Ozean in all seiner Weite liegt endlich vor mir! Hier endet die Küstenlinie Europas; in der Ferne, unsichtbar, kann Unendlichkeit erträumt werden (wir alle wissen, dass da irgendwann leider nur Amerika oder, je nach Blickrichtung, Afrika auftaucht; letzteres sieht man gar von hier aus schon im Dunst). In der Nähe dümpeln jedoch viele Schiffe auf dem Meer, zwei große, mehrere kleine, die wie Satelliten um die großen kreisen. Aha.
Es ist Mai; der Thunfischfang ist in vollem Gang. Traditionell schon immer hier, an der Verbindung zwischen Mittelmeer und Atlantik; zur Laichzeit treibt es die Raubfische in die Meerenge und das macht sich der Mensch zunutze. Allerdings trieb er es lange nicht so heftig wie in neuerer Zeit: Almadraba nennen die Spanier die herkömmliche, fast handwerkliche Art, den Thunfisch unter solidarischer Beteiligung aller Fischer der Küste mithilfe von kleinen Booten und Netzen zusammenzutreiben, bis die Tiere nicht mehr entkommen können. Dennoch, ein blutiges Gemetzel. Allerdings werden dabei nur ausgewachsene Tiere und schon gar keine Delfine gefangen; die menschlichen Augen wachen sorgsam darüber. Der Blick auf die Schiffe scheint dagegen von der heutigen Fangmethode zu künden – der das menschliche Auge (und nicht nur das) fehlt. Anstelle der heimischen Fischer, die ihren Fang jedoch auch schon seit längerem vor allem ins Sushi-Land Japan exportierten, davon aber wenigstens leben konnten, haben sich mittlerweile japanische Jagdgesellschaften die Fangrechte selbst gesichert und beuten den Ozean hemmungslos aus. Angeblich leben noch ein paar Bewohner von Barbate oder Zahara de los Atunes von den Geldern, die ihnen die noch verbliebene Almadraba bringt. Der Großteil des Fangs geht jedoch zugunsten der Japaner, die auch sonst alles gleich an Bord ihrer Schiffsfabriken erledigen, sodass die toten Fische nie das spanische Festland erreicht haben, bevor sie, ausgenommen und filetiert, auf Reis oder in Dosen landen. Halt; so ganz stimmt das nicht – in allen Restaurants hier in der Gegend gibt es Atun rojo, und der soll angeblich aus der Almadraba stammen… Der Blick auf die Schiffe zeigt jedoch, dass das der Rubrik „Marketing“ zuzuordnen zu sein dürfte. Vermutlich müssen die Spanier den Weg des Re-Imports nutzen, um vor der spanischen Küste gefangenen Thunfisch auf die Teller zu kriegen!
26.5.2019
Die Auslagen der Fischstände in der Markthalle von Barbate sind allerdings voll belegt mit Atun, in jeder denkbaren Variation, Filet, ganze Stücke, Plato (damit meinen die Verkäufer sowas wie Thunfisch-Gulasch); und alles – natürlich Almadraba. Es klingt glaubhaft; das Fleisch sieht komplett frisch aus, teilweise tropft noch das dunkelrote Blut herunter, wenn der Verkäufer die Ware einer noch nicht entschlossenen Kundin anbietet und hochhält. Je nach Stück unterschiedliche Preise, und die sind gesalzen wie der Bacalhao in Portugal. Wenn die heimischen Fischer etwas davon haben – bitte schön! Ich sehe davon ab, mich durch einen Kauf an der Thunfisch-Hatz zu beteiligen. Thunfisch ist nicht gerade gesund, als Raubfisch ist er kontaminiert mit Schwermetallen. Das ficht freilich die Einheimischen nicht an. An jedem Stand steht eine lange Käuferschlange.
Draußen neben der Halle tönt es in der Fußgänger-Passage wie im Hauptbahnhof. Die spanische Sprache tendiert zur Lautstärke, und am Wochenende kaufen fast alle in der Markthalle ein und gönnen sich davor oder danach einen Plausch beim Kaffee oder gleich etwas Stärkerem; Jerez ist ja nicht weit, und warum soll der gute alte Fino immer nur in den Fässern vor sich hinreifen? Mich zieht es in die Bar an der Ecke gegenüber. Besetzt von ausschließlich reifem, überwiegend weiblichem Publikum – neben dem ich noch als Jungspund durchgehe – in überaus schicker Garderobe, wie sie nicht einmal in Bad Kissingen anzutreffen ist, zum Teil noch die Reste des späten Frühstücks auf den Tellern, eine ältere schlanke Senora hinter der Theke, die aufmerksam meine Bestellung entgegennimmt (natürlich Cortado; was sonst) – und mich später mit einem freundlich-jovialen „Adios, Caballero!“ auf die Straße entlässt. Ähm… Wo hatte ich nur mein Pferd angebunden?
27.5.2019
So langsam klärt sich Manches. Zum Beispiel, dass man nicht notwendig mit einem Pferd unterwegs sein muss, um „Caballero“ genannt zu werden. Die Dame kannte noch die alte Höflichkeit und gab ihr Ausdruck! Oder meinte sie das bloß ironisch? – Und gestern Abend sah ich insgesamt neun etwa jeweils gleich große Schiffe vor der Küste liegen, ziemlich weit draußen, im Aussehen wie Frachtschiffe. Auf Nachfrage erfuhr ich heute, dass es sich tatsächlich um solche handelte. Sie ankern leer und warten auf den nächsten Auftrag, der sie entweder nach Cadiz oder nach Huelva führen kann. Und auf See vor Anker zu liegen sei eben billiger als im Hafen. Das ist die moderne Seefahrt. Ahoi!
Also hatte ich neulich doch nicht die berüchtigten japanischen Hochseefabriken entdeckt. Die Almadraba findet trotzdem nicht mehr wie früher statt. Einige Kilometer weiter südlich, sogar noch vor Tarifa, und näher an der Küste als die ankernden Frachtschiffe, doch stets begleitet von den japanischen Fabrikschiffen, auf denen der Fang sogleich verarbeitet und teilweise frisch mit anderen Booten zum Flieger gen Heimat, teilweise tiefgefrostet an Bord gelagert und in Eisform nach Japan gebracht wird. Ein paar Brosamen fallen für die thunfischnärrischen Spanier dann auch noch ab; das erklärt die vollen Marktstände in Barbate und die allerorten anzutreffenden Speisekarten. – Ich ließ mir dagegen heute mein mediterranes Zucchini-Auberginen-Gemüse (con ajo!) an Pilz-Tofu-Pfanne schmecken – einziges Zugeständnis an die See waren die Sardinas ahumados als Beilage. Man braucht ja jede Menge Omega3-Fettsäuren. Und natürlich ohne Wein!
27.5.2019 (2)
Spätestens jetzt muss der geneigte Leser zu der zutreffenden Einsicht kommen, dass der Autor dieser Zeilen nicht normal is(s)t. In kulinarischer Hinsicht ist diese Spanien-Reise auf jeden Fall alles andere als spanisch. Damit Ihnen das nicht spanisch vorkommt: Auf Anraten meines Arztes ernähre ich mich – rein aus medizinischen Gründen – seit Ostern für zunächst drei Monate ketogen. Also keine oder nur ganz wenig Kohlenhydrate, dafür umso mehr Fett. Das bringt es mit sich, dass ich alles, was mich früher in Spanien an Essen und Trinken so erfreut hat, getrost vergessen kann. Statt Tostados mit Käse oder Tomaten, gar Marmelade gibt es morgens nur das selbstgemachte fette Ketüsli mit Samen und Nüssen, fettem Rahmjoghurt, Mascarpone, Sahne oder Kokosöl (3 Esslöffel!), verfeinert mit ein wenig Beerenobst; mittags und abends darf es alles aus Salat und Gemüse sein, aber um Himmels Willen keine patatas, kein arroz, keine pasta! Und auch nix mit den süßen Postres oder den geliebten Leckereien aus der Pasticceria – solo un cortado! Da ich mich nun auch noch seit Jahren weitgehend vegetarisch ernähre, darf – obwohl sehr ketogen – auch Jamon oder ein Steak nicht mehr auf dem Speiseplan stehen. Zum Glück aber Fisch; sonst hätte ich ein Problem.
Damit jedoch nicht genug. Gesundheitsbewusst essen heißt essen zu halbwegs vernünftigen – also tendenziell mitteleuropäischen – Zeiten mit einer langen Pause – das bedeutet völlige Abstinenz! – vom frühen Abend bis in den Vormittag. Selbst die kleinste Olive oder ein Stück Käse sind in dieser Zeit untersagt, von Wein oder anderem alkoholischen Gebräu ganz zu schweigen. Wer einmal in Spanien war, weiß, wie das mit den dortigen Gepflogenheiten kollidiert. Wenn ich zu Mittag esse, haben die Einheimischen gerade ihr zweites oder ihr spätes Frühstück hinter sich gebracht und mein Abendessen beginnt zu einer Zeit, zu der sich der Spanier und die Spanierin gern mal einen Sherry gönnen, aber beileibe noch nicht an das große Dinner denken. Manche sitzen ja tatsächlich noch beim Nachtisch ihrer cena, wenn ich spätnachmittags vom Strand komme… Aus meiner Erfahrung in Valencia vor zwei Monaten – und seinerzeit ernährte ich mich „nur“ gesundheitsbewusst vegetarisch – habe ich aber gelernt: Die Möglichkeit zur Selbstverpflegung ist unter diesen Vorzeichen ein absolutes Muss!
28.5.2019
Von Zahara de los Atunes (klar, hier wurde traditionell schon immer Thunfisch gefangen!) nahm ich 1998 erstmals Kenntnis, als Endpunkt einer Reise diagonal durch Spanien. Wir fuhren auf’s Geradewohl. Von Cordoba kommend, suchten wir an der Küste nach einer Bleibe für mehr als nur ein paar Tage, besichtigten Conil, dessen enge Gassen damals komplett mit dem Auto durchfahren werden konnten, fanden dort nicht, was wir suchten, und fuhren dann auf der Nationalstraße weiter, bis wir an einen Abzweig Richtung Zahara stießen; ein Blick auf die Straßenkarte und zugleich auf die Uhr ließen es ratsam erscheinen, dort unser Glück zu versuchen. Wir landeten in einem marode anmutenden Fischerort, dem man nur allzu deutlich ansah, dass es mit der Fischerei schon mal besser lief. Es war Oktober, einige wenige Touristen schlenderten an der einzigen, mit wenigen kleinen Hotels gesäumten Stichstraße zum Meer hin, und wir fanden, gerade zum Einbruch der Dämmerung, an einer öden Stelle schon außerhalb des Orts eine unauffällige Ansammlung von drei Bungalows direkt am Strand, von denen wir einen, nach telefonischer Kontaktaufnahme (noch mit traditionellem Münztelefon!) und kurzen Verhandlungen in spanisch-französischem Radebrechen von einem Spanier mittleren Alters mieteten. An diesem Abend aß ich das erste Thunfisch-Steak meines Lebens, und wir blieben drei Wochen.
Die Bungalows liegen immer noch genau so, wie ich sie kennengelernt habe, direkt am riesigen, weiten, herrlichen Strand, als wären nicht einundzwanzig Jahre vergangen. Um sie herum ist allerdings fast kein Stein auf dem anderen geblieben. Die leere Steppe, die sich seinerzeit als Lücke zwischen Zahara und Atlanterra, einer damals aus ganz wenigen noblen Villen bestehenden Satelliten-Urbanizacion, erstreckte, ist mit den Segnungen der spanischen Küsten-Verbaukunst gefüllt und Atlanterra um mehrere Dimensionen ausgedehnt worden. Nicht ganz so schlimm wie weiter drüben, an der Costa del Sol, aber eben zugebaut. Und es stehen schon neue Kräne an weiteren Arealen, die erschlossen werden. Zahara selbst hat seine touristische Infrastruktur erweitert mit der logischen Folge, dass jetzt überall Touristen herumlaufen; ganze Straßenzüge mit Bars und Restaurants, Sitzgelegenheit an Sitzgelegenheit, schön immer im Viererpack, harren – am Vormittag – der Besucher. Ein wenig fühle ich mich an Sachsenhausen erinnert… nein, so schlimm oder wie auch in Conil ist es nun doch nicht. Aber: die Stichstraße zum Meer ist fein gestaltet worden, die Häuser sind herausgeputzt, und auf der anderen Seite des Ortes, auf der ein Fluss beschaulich in den Atlantik mündet, gibt es sogar eine neue Uferpromenade neben den Stellplätzen für die Wohnmobile. Wenn auf diese Weise die Existenz der früher durchgehend als Fischer tätig gewesenen Einwohner gesichert ist… angesichts dieser Vielgestaltigkeit lautet das Resümee: Es hätte schlimmer kommen können!
29.5.2019
Völlig unverändert, zumindest dem Anschein nach, schlagen hingegen nach wie vor die Wellen des hier besonders unendlich wirkenden Atlantiks an den malerischen Strand bei Canos de Meca. Glitzernd spiegeln sie das grelle Sonnenlicht in der Nachmittagshitze, türmen sich auf, wodurch das spiegelnde Glitzern in Breite und Höhe an Intensität gewinnt, bis die Welle am Höhepunkt bricht und das Licht sich in weiße, sprudelnde Gischt verwandelt, die auf dem tosenden Wasser tanzt, ermuntert, ja angefeuert durch die unter ihr ins Meer zurückströmende Flut, so lange, bis die Schaumperlen langsam im Boden versanden. Stundenlang schaue ich diesem Naturschauspiel stumm und immer wieder ergriffen zu.
Der Strand von Canos war es, der uns seinerzeit bis zum Ende des Urlaubs hier bleiben ließ. Jeden Tag fuhren wir rüber von Zahara, weil es dort nicht diese wunderbare Steilküste mit ihren kleineren und größeren Buchten gibt, in denen der Mensch sich der Welt entrückt fühlen kann. Einsamkeit, Wildheit, Naturgewalt – alles kann hier mit jedem Schritt und in jedem Moment erfahren werden. Riesige Brocken, die in Sturm und Regen von den Klippen heruntergebrochen sind, werden unten von der rauhen See weiter zerklüftet und zugleich sanft geschliffen; sie liegen hier im Sand, teils schon im Wasser, als hätten Riesen sie dort hingeworfen. Manche suchen zwischen ihnen Ruhe und Entspannung, die allein schon dadurch gewährleistet ist, dass dieser Teil des Strandes nur bei Ebbe erreicht werden kann und bei Flut der Rückweg – und natürlich ebenso der Hinweg – verschlossen ist. Und im weichen Gestein finden sich zuweilen kleine Höhlen oder Gänge, die in die Klippen hineinführen. Abenteuerlich. Der Name des Strands leitet sich von den vielen Süßwasser-Rinnsalen ab, die wegen der parallelen Gesteins-Schichtung an vielen Stellen den Klippenwänden entspringen und an und in denen unterschiedlichste Pflanzen wachsen. Jede Sekunde gibt es Neues zu entdecken, und über allem liegt die Ewigkeit der Natur.
30.5.2019
Das kann man normalerweise auch vom Ort Canos de Meca selbst sagen. Außer im Hochsommer – dann soll nicht nur die einzige Straße regelrecht verstopft sein, sondern in gleicher Weise der wunderschöne Strand, an dem die Menschen Handtuch an Handtuch liegen sollen; übrigens einer der saubersten Strände, die ich je gesehen habe. Doch heute morgen dräute lärmendes Unheil. Auf der – illegal in den Naturpark hineingefrästen, aber wir sind in Spanien, noch genauer, in Andalusien; da ist es nicht so wichtig, ob legal, illegal oder scheißegal – also auf der vor einigen Jahren illegal planierten Piste, die den Verkehr um den Ort herum wieder herausleiten soll, näherten sich zunächst ein Lastwagen, ein Kipper, der alle paar Meter einen Haufen Lehm hinterließ, und wenig später ein sauriergleiches Ungetüm Marke „Champion“, welches, so ließ sich dem Schriftzug an der Seite entnehmen, für „Nivelaciones“ zuständig ist und dementsprechend die Lehmhaufen auf der Straße nivellierte; eine Planierraupe der frühen Jahre… Es schloss sich ein von einem Bau-Traktor gezogener Güllewagen an, der allerdings reines Wasser auf den Weg entleerte, und dann kam doch, die Erde bebte schon lange, bevor sie in Sichtweite kam, tatsächlich noch eine Dampfwalze und walzte das alles einfach platt! Die Fahrzeuge ließen sich an den Stellen, an denen sie zu tun hatten, weidlich Zeit, aber das war wohl auch notwendig; nur verursachten sie dabei einen derartigen Höllenkrach, dass die Urlaubsstimmung etwas getrübt wurde, zumal die Arbeiten den ganzen Tag über andauerten. Ein Strandbesuch hätte nahegelegen, erwies sich aber angesichts des herrschenden Sturmwinds aus Ost als wenig ratsam.
Und das alles nur, weil diese illegale Piste in den Naturpark gebaut wurde! Die ist allerdings wohl genau der Illegalität wegen nicht asphaltiert, vielleicht, um nicht – wegen der sonst bewirkten Bodenversiegelung – noch mehr Gründe zur Klage zu liefern, die hier allerdings vermutlich eh keinen Zweck hätte; wen kümmert‘s schon. Und als ich mich bei der Ankunft verfuhr und deswegen einmal um den Ort herumfahren musste, habe ich die vielen Schlaglöcher körperlich kennengelernt, die diese Piste prägen. So dienten die heutigen Arbeiten dem Zweck, Achsen und Reifen der Blechkarossen der in Kürze, nach Saisonbeginn zu Pfingsten hier einfallenden Besuchermassen nach Möglichkeit zu schonen – denn wer aus dem Ort herauswill, muss über die Piste, sonst fährt er illegal gegen die Richtung der Einbahnstraße. Und wir wollen doch bitte schön immer im Rahmen der Legalität bleiben und die Verkehrsregeln beachten! Ich halte mich allerdings nicht daran; das Auto ist schließlich nur gemietet…
31.5.2019
Den Begriff „Levante“ assozierte ich immer mit etwas Südländischem, Geheimnisvollen, Träumerischen. Von diesen Assoziationen liegt nur die erste nahe an der Wirklichkeit, wie ich nunmehr am eigenen Leib erfahren muss. Es bläst seit zwei Tagen und noch weiter für eine prognostizierte Dauer von drei zusätzlichen Tagen ein heftiger Wind aus Ost, der das Meer zum Schäumen und alle fliegenden Insekten – so scheint es – in eine Art Vorruhestand bringt; die lästigen Kleintiere sind jedenfalls – Ameisen selbstverständlich ausgenommen – nicht mehr zu sehen. Was man als Mitteleuropäer nicht kennt: Es gibt keine Pause. Der Wind bläst dauerhaft und gleichförmig, weitgehend mit derselben Stärke, die im Tagesverlauf leicht, aber stetig zunimmt und die einen an bestimmten Stellen von den Beinen zu fegen in der Lage wäre, hielte man nicht mit aller Kraft dagegen. Und des Nachts ändert sich auch nichts.
Der Levante hat seinen Namen von der Küstenregion, der er entspringt. Von der Sierra Nevada als Fallwind kommend und im Süden durch das Atlasgebirge begrenzt, nimmt er über dem Mittelmeer sozusagen Fahrt auf und bläst sich, dort Orkanstärke erreichend, durch die Meerenge von Gibraltar in Richtung des offenen Atlantiks. Wer jetzt am Strand liegen möchte, braucht eine geschützte Felsnische, wie sie die Buchten am Strand von Canos de Meca glücklicherweise bieten. Man muss nur rechtzeitig da sein. In die brausende Gischt der von Südosten anrollenden und im Wirbel nach Nordwest abfließenden Wellen wagen sich nur Todesmutige, zumal der Küste scharfkantige Felsen und Riffe vorgelagert sind, auf die einen die tosende See werfen könnte. Doch mit den Füßen kann man es schon wagen, bis die Oberschenkel vom Wasser umflossen werden und bei ablaufender Flut die Füße in den weichen Boden hineingespült werden…
1.6.2019
Und ausgerechnet an einem der Levante-Tage steht der Sinn nach einem Abstecher nach Tarifa! Na ja, man will sich ja nicht jeden Tag am Strand permanent mit Sand beblasen lassen. Tarifa liegt am einen Ende der Straße von Gibraltar, und genau da kommt der Wind wie aus einem Trichter – oder sollte ich das treffender „Düse“ nennen? – heraus auf den weiten Atlantik. Gerade dem Auto entstiegen, direkt am Hafen, weil nur dort ein freies Plätzchen zu finden war, hat es nur zehn Meter weiter den Anschein, die Fahrt sei umsonst gewesen, da dem Überqueren der Straße – an einer Kreuzung, in die eine Zufahrt vom Hafen mündet und die nach Osten hin offen liegt – der Turbo des Sturms mit einer vermuteten Windstärke der Stufe zwanzig entgegen steht! In so einer Bö hatte ich mich noch nicht befunden, und es fehlte nicht viel, dass sie mich von den Beinen geholt hätte. Doch es war eben nicht nur eine Bö, es war der Levante! Fast hätte diese Naturgewalt mir den Friseur auf ewig erspart, doch auch die Haarwurzeln boten alle Kraft auf und retteten ihre Fortsätze. Selbst in der Altstadt, in die wir es dann doch noch schafften, bläst es um jede Ecke.
Tarifa selbst ist inzwischen ebenfalls sehr für die Besucher herausgeputzt, obwohl hier auch mehrere Zehntausend Einheimische leben. Nichts mehr zu sehen von den Kifferkneipen und den Hippies, die ich 1998 dort antraf und die der Altstadt ein lebendiges, alternatives Flair verschafften. Überall die gleichen kleinen Läden mit auf Touristen zielendem, letztlich nutzlosem Sortiment, ab und zu ein Schuhgeschäft und immerhin einige Konditoreien; aber auch da kaufen mehrheitlich Touristen. Das wahre Leben findet außerhalb der Mauern der Altstadt statt, ist aber eher nicht so pittoresk. Da stehen dann auch die immer gleichen, wenig erbaulichen, phantasielosen Gebäude mit engen Gängen und kleinen Räumen, auch von außen nicht schön anzusehen. Und in den Außenregionen wird kräftig gebaut, die Stadt wächst. Natürlich – weiter nördlich schließt sich ein Surferparadies an, Tarifa ist hip!
2.6.2019
Canos war mal hip, im treffendsten Wortsinn, nämlich unter den Hippies und Alternativen der siebziger, achtziger, neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Sie übernachteten zum Teil in Höhlen und Grotten am Strand, andere zogen sich auf dem Aussichtsplateau einen rein und dinierten daselbst auch im Campermobil, das sie vor dem Schrotthändler bewahrt hatten. Gegenüber waren die strohgedeckten Bungalows Los Castillejos, etwas heruntergekommen, aber sehr belebt und beliebt. Hunde tollten den ganzen Tag überall herum und Mütter säugten im Camper ihre Kleinen, während die Männer – natürlich mit Rasta-Locken – schon die ersten cervezas konsumierten. Neben den Alternativen gab es andererseits schon immer die ganz Reichen, denen die Villen gehörten, die auf den Klippen liegen und von denen man einen unglaublichen Blick aufs Meer haben muss und die auch heute noch meist von Mauern umgeben sind und fast das ganze Jahr über leer stehen, wenn nicht die Eigentümer mal Lust auf Meer verspüren oder an Gäste vermietet haben. Insgesamt – easy going; keep cool, man…
Nur die Reichen können es sich auch leisten, das kleine Ensemble an Villen und Häusern um weitere Exemplare dieser Gattung zu ergänzen. So sind im Lauf der Jahre ganze drei einzelne Häuser hinzugekommen (und auf einem größeren Grundstück zwei Reihen Reihenhäuser, als“ Urbanizacion“), allesamt im neuen, geradlinig-modernen sachlich-nüchternen Baustil, und allesamt erst, nachdem die Eigentümer jahrzehntelang nach dem Grunderwerb mit dem Bauen gewartet hatten, denn hier gibt es keine Baugenehmigungen, aber wenn man dann nach 30 Jahren doch etwas hinbaut, ist das zwar illegal, aber wer macht schon was dagegen… Genauso illegal übrigens wie die Zufahrtsstraße von Barbate, die mitten durch den Pinienwald auf den Klippen führt; wie gesagt – Parque Natural, aber irgendwann hat man eine Schneise geschlagen, eine Piste planiert und schließlich diese asphaltiert. Ich kenne die Gegend nur mit Straße, aber wenn ich mir vorstelle, wie unberührt sie gewesen sein muss, als der Wald noch vollständig war, werde ich melancholisch. Der Mensch mache sich die Erde untertan, steht angeblich in der Bibel. Warum hat eigentlich noch kein Staat dieses Propaganda-Machwerk verboten?
3.6.2019
Nun, es ist ja nicht so, dass die Bibel etwas propagiert und der Mensch dem blind folgt (es wirkt freilich so, gerade in Spanien, wo immer noch schmerzvoll die Heilige Dreifaltigkeit verehrt wird, vor allem aber die Heilige Jungfrau). Vielmehr ist der Mensch in seinem Wesen, wie die Bibel ihn einfach nur beschreibt, und mit diesen Wesenszügen muss die Erde fertigwerden oder untergehen. Mir fiel es heute mal wieder an mir selbst auf: Aus der Yucca-Palme im Garten, in deren geschütztem oberen Zentrum sich ein Vogelnest befindet, strebte heute früh ein Jungvogel der Welt entgegen, um sie für sich zu entdecken und zu erobern. Gerade kam noch letztmals die Mutter ans Nest, um zu füttern, da saß er schon draußen an der Blattspitze und erhob sich plötzlich heftig flatternd in die Luft, nur um sich kurz darauf drei, vier Etagen tiefer an der Spitze eines dortigen Blatts gerade noch auffangen zu können – denn fliegen muss er noch fleißig üben, der Kleine! Doch kurz zuvor hatte ich gesehen, wie im vorderen Teil des Gartens eine Katze herumschlich. Und da ich weiß, was das für den armen Jungvogel bedeuten könnte – er saß mittlerweile auf dem Boden im Buschwerk -, wurde ich unruhig und empfand den Impuls, irgendetwas zu tun, um den armen kleinen Vogel vor der bösen Katze zu retten.
Und da sind sie, die menschlichen Eigenschaften, Empfindungen, Instinkte, die, gibt man ihnen nach, vor allem eins bewirken: sie lassen der Natur nicht ihren Lauf. Auch gut gemeinte Eingriffe können Schlechtes bewirken, und hier wären sie zwar nichts mit schlechten Folgen gewesen, aber im besten Fall hilflos – und eben nur ein Ausdruck, dass es einen heftigen menschlichen Grundimpuls gibt, die Welt nach menschlichem Denken einzurichten, in dem Glauben, der Mensch wisse schon, was am besten sei. Seit Millionen von Jahren aber brüten die Vögel ihre Jungen aus, fliegen diese tapsig-hilflos und unvollkommen aus dem Nest und werden, wenn sie sich nicht sputen, ordentlich fliegen zu lernen, von Katzen oder Schlangen gefressen. Und dennoch gibt es immer noch jede Menge Vögel, ohne dass der Mensch ihnen Schutz bieten müsste. Dafür sorgen sie allein, oder eben auch nicht. Das ist Natur. Und wenn es immer weniger Vögel werden, auch hier an der spanischen Küste im Parque Natural, dann liegt es nicht an der Natur, sondern an den Eingriffen der Menschen, die diese sich anmaßen realisieren zu dürfen. – Eingedenk dieser Gedanken setzte ich, zugegeben schweren Herzens, meinen Impuls nicht in die Tat um, und siehe da, am Abend entdeckte ich den Kleinen, wie er im Garten herumhüpfte, in der Blumenschale nach Wasser pickte – und kurz darauf schnell wieder davonflog!
4.6.2019
Die Natur lehrt mich dieser Tage, wie schnell und unkompliziert es manchmal gehen kann, einfach so. Als ich in meinem Domizil eintraf und zum ersten Mal meine morgendlichen Pranayama-Übungen praktizierte, auf der Terrasse mit wunderbarem Blick ins Grüne und übers Meer, erblickte ich diesen Vogel, einen Grünling oder etwas Ähnliches, wie er alle paar Minuten mit Büscheln im Schnabel in die Yucca-Palme im Garten flog, kurz darauf wieder mit leerem Schnabel herauskam, wieder startete und das Ganze stetig wiederholte. Also baute er sich ein Nest, und dies durchaus zwei, drei Tage lang. Dann wurde es ruhiger, und wenig später flog er wieder ein und aus, kam diesmal aber wohl jedes Mal mit Futter im Schnabel zurück und wurde jeweils freudig von innen begrüßt – das Zirpsen setzte immer schon ein, wenn der Vogel sich auf dem Blatt der Yucca niederließ, und endete erst nach seinem erneuten Abflug. Und so ging es den ganzen Tag.
Und dann kam es eben nach nur wenigen Tagen zu dem Moment, als der Jungvogel das Nest verließ, an die äußerste Spitze des Blatts hüpfte und den ersten Flugversuch startete. Danach war es ruhig im Nest; es muss also der letzte der Brut gewesen sein. Das Zirpsen ging dann noch bis heute im Untergrund weiter, im stacheligen Gebüsch unter der Yucca, in dem der Jungvogel wohl hinreichend geschützt sich aufhalten konnte. Tagsüber hüpfte er allerdings auch schon durch den Garten, und zum Glück – keine Katze in Sicht! Für den ganzen Vorgang benötigte die Natur keine zwei Wochen, und wahrscheinlich muss es auch so schnell gehen, um den Vögeln ein Überleben zu sichern. Am beeindruckendsten war der Moment, in dem der Kleine Abschied nahm: er sprang einfach mutig hinunter, ins Ungewisse; die Mama sah dem zu, schaute etwas verdutzt, wunderte sich wohl, was geschah (das denken wir Menschen); dann, nach einem kurzen Warten, flog sie wieder davon und es schien, als hätte es die tagelange Fürsorge für den Nachwuchs nicht gegeben. Wenn man bedenkt, welch ein Gedöns die Menschheit um den gleichen Prozess der Ablösung des Nachwuchses vom Elternhaus macht… da hat es ein Vogel doch viel leichter!
5.6.2019
Das Ende ist nah, vermutlich dieser Erde, wenn die Menschheit nicht endlich ein Einsehen hat, auf jeden Fall aber meiner Urlaubstage und damit auch des Spanischen Kaleidoskops. Am letzten Ferientag ergreift mich regelmäßig Melancholie, zumindest, wenn mir der Aufenthalt gefallen hat – dann möchte ich gar nicht wieder heim. Obwohl diesmal nicht ein Übergang vom warmen Sonnenschein in die Kälte oder Dunkelheit droht, die in Deutschland im Winter herrscht, befällt mich dennoch wieder die Traurigkeit darüber, dass die schönen Tage in der Sonne – die hier permanent vom Firmament herunterleuchtete, wenn es nicht gerade Nacht war – nun vorbei sind und der Alltag von Neuem beginnt. Es fühlt sich an, als ginge etwas unwiederbringlich verloren.
Die Urlaubs-Gepflogenheiten werden ein letztes Mal zelebriert; fast schon wie ein Ritual. Der letzte Cortado am Vormittag, der letzte Strandgang, das letzte, aber ausgedehnte Bewundern der ewig an die Küste brandenden Wellen und abends ein Abschiedsbesuch bei der Gastgeberin; ein Gespräch mit Zurückbleibenden… und dann die letzte, unruhige Nacht, bevor es am nächsten Morgen in der Früh losgeht, Richtung Flughafen, unterwegs Frühstück (und doch noch mal ein Cortado), Auto-Mietstation, Check-In, Sicherheitsschleuse, Warten am Gate, ewig langes Boarding…Ist das Reisen? Oder nicht doch nur zweckmäßiges Fortbewegen? Nächstes Mal nehme ich dann doch wieder das eigene Auto!
6.6.2019
Nein, schlimm ist sie nicht, die Heimfahrt. Alles klappt wie am Schnürchen, der Flieger ist sogar pünktlich; das Personal von der Gangway winkt zum Abschied freundlich herüber; keine Flugshow und kein Gewitter in Frankfurt, sodass die Leitung den Flughafen nicht dichtmachen musste… Freilich ein Ankommen wie das Abfliegen – wieder kein Gate, sondern eine Außenposition; wolkenverhangener Himmel, aus dem sich sogar Tropfen lösen; die Temperatur unter zwanzig Grad; nein, so möchte ich nicht empfangen werden, wenn ich aus spanischer Sonne heimkomme!
Und allein die Fahrt vom Flughafen nach Hause setzt mich einer derartigen Menge Lärm aus, wie ich sie – selbst im trubeligen Barbate, im windumtosten Tarifa oder in den Touristenmassen in Cadiz – in den vergangenen Wochen nicht annähernd erleben musste. Am liebsten möchte ich geradewegs umkehren. Als dann die U-Bahn ratternd über schlecht verschweißte Schienenkreuzungen rumpelt und mich mit meinen heute etwas lädierten Bandscheiben unsanft durchrüttelt, ist es unumstößlich klar. Ich bin wieder in Frankfurt.