Zeitenwende??

Zeitenwende??

Es ist an der Zeit, sich vom Begriff „Zeitenwende“ zu verabschieden. Aber, könnte der Einwand lauten, wir haben ihn doch erst vor kurzer Zeit überhaupt erfunden?! Mag sein, doch wenn wir die Phänomene der neueren Geschichte – sagen wir seit 2022 – als Zeitenwende charakterisieren, verschleiern wir mehr als wir erklären. Denn was suggeriert dieser Begriff denn anderes, als dass sich eben die Zeiten geändert hätten – und damit nimmt das Unheil seinen Lauf, denn dann kommt alles Übel von außen und wir sehen uns ihm ausgeliefert.

Doch das Unheil kommt eher von uns selbst, von innen, und hier bedarf es einer „Wende“, gleichsam einer Einsichtswende. Was da scheinbar von außen und scheinbar ganz plötzlich, ja vorgeblich kaum „erwartbar“ auf uns einprasselt und uns zu Reaktionen nötigt, zu denen wir uns jahrzehntelang nicht fähig wähnten, ist mitnichten spontan über die Welt kommendes Unheil. Sowohl die Entwicklungen in Russland als auch diejenigen, die sich jetzt in den USA überstürzt Bahn brechen, waren für jeden, der es wahrhaben wollte, absehbar – Putin hat sich niemals versteckt, und Trumps Agenda übersetzt nur die Theorie des neunhundertseitigen „Project 2025“ in die amerikanische Wirklichkeit, für deren radikalen Umbau es erdacht und niedergeschrieben wurde. Da steht minutiös drin, was heute tagtäglich jenseits des Atlantiks passiert; aber das kennt hierzulande ja kaum einer, weil man, genau wie bei den Umtrieben des Herrschers im Osten, den Kopf in den Sand steckte und dem Wahn verfiel, es werde schon alles nicht so schlimm werden und was geht uns das überhaupt an? Bloß nicht hinschauen und sich Gedanken über unangenehme Dinge machen; bloß kein Sand im Getriebe der Bequemlichkeit, das könnte womöglich die jährlich mehrfachen Urlaubszeiten trüben oder den Spaß am Bundesligafußball verderben. Und einen Grund dafür, jedes neue Jahr mit reichlich Böllerei zu begrüßen (haben wir ja schon immer so gemacht, das lassen wir uns doch nicht nehmen!), hätten wir dann ja womöglich auch nicht mehr. Nein, Wegschauen war schon immer dann die Devise, wenn das Hinschauen uns aus unserer Beschaulichkeit hätte reißen und uns zu Taten drängen können, deren Umsetzung unter anderem auch den Verzicht auf Liebgewordenes erfordert hätte. Dann doch lieber weiter mit der Illusion… Die dringend notwendige „Wende“ besteht also darin, endlich erwachsen zu werden, hinzuschauen – und die Realität ernstzunehmen!


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.